Dez
25
2022
Für Sie gelesen: "Der Steppenwolf" von Hermann Hesse. Hier schildert unser Leser Luis Pintak seine Eindrücke:
Medium: Buch, schöne Literatur
Genre: Roman
Altersempfehlung: Erwachsene
Umfang: 277 Seiten
Standort: Roman Hess
Das Medium im Katalog: Verfügbarkeit prüfen
Inhalt:
"Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf..." Harry Haller verzweifelt an sich selbst. Wie kann er sich einerseits nach Kunst und Schönheit sehnen und andererseits so dunkle, animalische Triebe besitzen? Dem Selbstmord nah, lernt er Hermine, eine Kurtisane, kennen. Durch ihre Hilfe gelangt er zur Einsicht, dass der Mensch viel mehr ist, als Harry erwartete.
Ein Glücksfall für die Weltliteratur – Hermann Hesses "Steppenwolf"
Harry Haller ist um die fünfzig. Ein gewöhnlicher Mann, nicht atemberaubend, zuweilen schüchtern. Der Stereotyp eines Antihelden. Und doch ist er einer der aussagekräftigsten, der schillerndsten Figuren in der klassischen Literatur. Denn: Er ist ein "Steppenwolf", ein Mensch, der zwischen Einsamkeit und Anpassung an die Gesellschaft gespalten ist. Mit "Der Steppenwolf" schuf Hermann Hesse 1927 einen Roman, der nach wie vor herzzerreißend und von Wärme durchzogen ist. Viele Jahre später erschien 1974 auch eine amerikanische Filmadaption mit Max von Sydow in der Hauptrolle.
Hermann Hesse hätte wahrscheinlich nie gedacht, dass sein "Steppenwolf" einmal sein bekanntestes Werk werden würde. Der Romancier, der schon zuvor Erzählungen wie "Peter Camenzind" oder "Unterm Rad" vorgelegt hatte, befand sich zur Entstehungszeit in einer Persönlichkeitskrise: Düstere Zeiten herrschen im deutschsprachigen Raum. Der erste Weltkrieg sitzt den Menschen noch im Nacken, eine Weltwirtschaftskrise sowie politische Umwürfe stehen in der Türdiele und zu allem Überfluss sind die 1920er-Jahre auch noch das Jahrzehnt der turbulenten Freizügigkeit – Veränderungen in jeder Fußgängerzone sind an der Tagesordnung. Musik überall, Werbetafeln, Lichtflut – und mittendrin ein einsamer Mann namens Harry Haller. Ein Steppenwolf, wie er sich nennt; ein "Hasser der kleinbürgerlichen Welt". Steppenwölfe sind zwiegespaltene Wesen, Menschen, die so sind wie all die anderen Menschen da draußen, aber gleichzeitig in Einsamkeit leben. Und so wandert Harry Haller einsam und orientierungslos durch die Straßen einer größeren Stadt, die er schon einmal vor Jahren besucht hat. Ein Mensch, der den Fortschritt, die Überflutung der Moderne nicht versteht, in Mozart und Goethe verliebt ist, aber nichts mit Hot Jazz und lauten Tanzsälen anfangen kann. Er denkt über Suizid nach. In einer dieser Tanzsäle trifft er schließlich Hermine, eine Tänzerin und Gelegenheitsprostituierte, zu der er erstmals eine tiefere Verbindung aufbauen kann. Sie zeigt ihm die ihm unbekannten und verhassten Dinge in einem anderen Licht. Bei seinen Spaziergängen sieht er auch immer wieder eine Tür in einer Mauer, über der "Magisches Theater. Nur für Verrückte" steht. Als Haller es endlich betritt, erlebt er die Welt in einer gänzlich anderen Weise.
Eigentlich gibt es da nur wenig zum "Steppenwolf" zu sagen. Nur dieses eine: Er ist ein bunter Strauss an Themen, die Menschen bewegen. Liebe, Träume, Anti-Kriegshaltung und Künstlertum treffen an der richtigen Stelle. Genau da, wo die meisten ihren "eigenen" Steppenwolf in sich tragen, wo die Grenzen von Anpassung an Gesellschaftlichkeit und Individualität verlaufen. Harry Haller mutet traurig an und ist doch so sympathisch zugleich. Nicht auszumalen sind die geistigen Krisen, das Nicht-Anecken-Können an die Gesellschaft, doch immer wieder blinzeln Lichtblicke durch die von Krisen gepackten Zeit. Für Hesse war diese Zeit nicht weniger belastend: Krankheiten in seiner Familie, Scheidung und Todesfälle führten zu Suizidgedanken, die Haller ebenfalls pflegt. Ein Weg aus solchen Krisen scheint die Freundschaft zu anderen Menschen zu sein, um der Einklemmung in der Gesellschaft zu umgehen. Besonders sprachlich erwartet die Lesenden eine Reise in die Fantasie. Hesse bedient sich Wortneuschöpfungen und kräftigen Beschreibungen, so z.B. als Haller über dem Portal des magischen Theaters "auf dem alten Graugrün der Mauer einen Fleck matt beschienen" mit "beweglichen bunten Buchstaben" sieht oder als er im Beisein seines Vermieters über Araukarien philosophiert. Aufhören beim Lesen ist schlicht nicht möglich; zu groß ist die Magie, die der Text ausstrahlt. Nicht umsonst wird Hesse manchmal als "der letzte Ritter der Romantik" bezeichnet.
Obwohl Hesse kurz nach dem Zweiten Weltkrieg den Nobelpreis für Literatur erhielt, waren seine Werke – zu Unrecht – lange in Vergessenheit geraten. Das änderte sich mit den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre, die ihm vor allem auch in den USA eine Renaissance bescherte. 1974 erschien dann auch Fred Haines Verfilmung von Hesses meisterlichem "Steppenwolf". Diesen wie auch anderen Literaturverfilmungen eine Beurteilung zu geben, ist oft schwierig. Auch hier werden sich die Geister scheiden. In der Hauptrolle brillierte Max von Sydow, der zuvor durch Ingmar Bergmans Verfilmungen Bekanntheit erlangte. Seine Person verschafft Harry Haller das Gesicht eines Großstadt-Intellektuellen mit altmodischem Charme und ebenso viel Tiefgründigkeit. Hallers Beziehung zu Hermine und dem gesellschaftlichen Leben wird authentisch aufgezeigt, so oder so ähnlich hätte ich mir ihr Miteinander auch vorgestellt. Während Haller im Film auch als Ich-Erzähler auftritt und ebenso das Tractat, in dem das Leben des Steppenwolfs objektiv geschildert wird, dargestellt wird, fehlt jedoch die Einleitung von Hallers Vermieter. Gerade deren Umsetzung wäre von Interesse gewesen, da sich die Schauenden dadurch aus einem anderen, bürgerlich-sesshaften Winkel an Haller hätten herantasten können.
Abgesehen von anderen dramaturgischen Kürzungen oder Auslassungen ist es auch der Ton der 1960er/1970er-Jahre, der unverkennbar in seinen Äußerungen hervorsticht. Besonders die überschrille Farbgebung des "magischen Theaters" fällt auf. In Kombination mit gezeichneten Figuren machen diese einen aufdringlichen Eindruck, besonders die Musik ist hier zu abgedreht und entspricht eher weniger dem ruhigen, genussvollen Ton der Vorlage. Am strittigsten dürfte die sprachlich Komponente in Verknüpfung mit Hallers Gedankenwelt im Roman im Vergleich zum Film sein. Aussagekräftige Gedanken werden originalgetreu übernommen, doch eine absolute Einsicht in Hallers Denken erhalten wir nicht. Zu persönlich ist wohl sein Bericht im Roman, zu komplex wohl die Interpretation für den Film. Die Vorlage macht es natürlich auch besonders knifflig; Schauplätze wie das "magische Theater" sind schwierig zu filmen. Schließlich kann auch nicht der komplette Text in den Film übertragen werden. Man hätte sich vielleicht mehr von der Vorlage lösen müssen, um dem Film eine eigene Sprache und ein eigenes Bild zu verleihen. So ist er im Gesamtbild ein wenig zu düster geraten und an den wundersamen Stellen wiederum zu schrill und aufgedreht. Nichtsdestotrotz ein annehmbarer Film, denn er gibt die Gefühle und das Zeitgefühl wieder, das damals wohl herrschte. Es ist zwar nicht die beste, aber sicherlich eine mit Mühe gemachte Verfilmung.
Stadtbibliothek Göttingen - Medien. Entdecken. Lernen.