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StabiCheck: Daniel Schreiber

Feb 08 2022

Daniel Schreiber bleibt nüchtern allein zuhause.


Daniel Schreiber hat eine Biographie über Susan Sontag geschrieben und, angelehnt an ihren Stil, drei längere Essays: „Nüchtern: Über das Trinken und das Glück“ (2014), „Zuhause: Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen“ (2017) und „Allein“ (2021). Diese drei können in der Stadtbibliothek aus der Sachgruppe Gcl entliehen werden und wurden von mir über die Weihnachtsfeiertage/Neujahr innerhalb weniger Tage nacheinander gelesen.

Schreibers Texte haben mich sehr berührt. Der Autor verrät viel über sich selbst, reflektiert jedoch gleichzeitig den zeitgenössischen, gesellschaftlichen Kontext. Schreiber destilliert die philosophischen, psychologischen und soziologischen Gedanken anderer und mischt seine eigenen Erfahrungen mit ein. Die Lektüre war mitunter schmerzhaft – in der Empathie für Schreiber, aber auch dadurch, dass der Autor seine Finger in Wunden legt, die ich zum Teil teile und sicherlich auch viele Leser*innen haben. Er spricht Themen an, die wir oft verdrängen, über die wir uns nicht offen zu sprechen trauen.

 

Inhalt:

Medium: Buch
Genre: Sachbuch, Soziologie
Altersempfehlung: Erwachsene
Umfang: 159 Seiten
Standort: Gcl Schr
Verfügbarkeit prüfen: Allein

Es gibt Dinge, die in unserer Gesellschaft schambesetzt und stigmatisiert sind, z. B. das Leben allein, denn die Gesellschaft sucht die Schuld für das Alleinsein beim Menschen, der allein ist und unterstellt ihm fehlende soziale Kompetenzen. Menschen waren früher auf soziale Kontakte angewiesen, um zu überleben und dies steckt immer noch in uns. Deshalb tut es weh, wenn sich jemand als einsam empfindet: es ist eine körperliche Warnung, diesen Zustand zu beenden, obwohl man heutzutage ohne regelmäßige Kontakte zu anderen Menschen problemlos (über)leben kann. Einsamkeit, das muss immer wieder betont werden, ist ein subjektiv empfundener, seelischer Schmerz – im Gegensatz zum Alleinsein, das vor allem introvertierten Menschen willkommen und als Autonomie ersehnt sein mag. Einsamkeit ist unabhängig von der Anzahl der Personen, die uns umgeben. Wir können Hunderte an Freunden in den „sozialen“ Netzwerken haben, wir können mit drei Generationen einer vielköpfigen Familie zusammenleben und uns trotzdem einsam fühlen. Das tun wir, zum Beispiel, wenn wir erkennen, dass unsere Bekanntschaften nur „minor contacts“ sind, die man nur zu Gesicht bekommt, wenn es allen Beteiligten gerade gut geht. Wenn wir erleben, dass selbst die Personen, die wir als „enge Freunde“ bezeichnen, sich in der Pandemie auf ihre engsten, familiären Kontakte zurückziehen und zuerst ihre eigenen Herausforderungen zu bewältigen versuchen bevor sie sich denen ihrer Freunde zuwenden. Schreiber traf die Entscheidung, keine Liebesbeziehung mehr zu führen, zum einen wohl aus der bitteren Erkenntnis heraus, dass es dafür für ihn zu spät sei und sich Träume wie eine gemeinsame Familie nicht mehr erfüllen würden, zum anderen aus Selbstschutz vor weiteren emotionalen Verletzungen. Ent-Täuschungen können befreien, wenn man sich von Illusionen verabschiedet und bewusst macht, dass man ein Modell, das als Norm gilt (die Langzeitpaarbeziehung), nicht auf einen selbst übertragen muss. Man sollte vor allem sich selbst zu lieben lernen, ohne auf eine narzisstische Spiegelung in einem anderen angewiesen zu sein.

 


Medium: Buch
Genre: Sachbuch, Soziologie
Altersempfehlung: Erwachsene
Umfang: 139 Seiten
Standort: Gcl Schr
Verfügbarkeit prüfen: Zuhause
Wenn in der Pandemie kaum Raum für freundschaftliche Begegnungen bleibt, erscheint es umso dringlicher, zumindest ein Zuhause zu haben, einen Ort, an dem man sich als zugehörig verortet. Was aber, wenn man sich mit ständigem Fernweh nach den Orten sehnt, an denen man gerade nicht ist, wenn man oft über einen Umzug nachdenkt? Schreiber wurde 1977 in Mecklenburg-Vorpommern geboren und wuchs in einem kleinen Ort auf, in dem er als Junge, von dem man damals schon ahnte, dass er schwul ist, schrecklich gemobbt wurde. Das beschreibt er schonungslos, sodass mir Tränen in den Augen standen. Als junger Erwachsener lebte er längere Zeit in New York und London, kehrt dann aber nach Berlin zurück, wo er sich trotz schön eingerichteter Wohnung rastlos fühlt. Er erkennt, dass er sich selbst nicht entfliehen kann, indem er an andere Orte flieht, denn er nimmt sich und seine metaphysische Heimatlosigkeit jederzeit mit. Das moderne Nomadentum macht es entbehrlich, irgendwo verwurzelt zu sein oder „anzukommen“. Es gestattet, sich an vielen Orten, mit denen man vertraut ist, zuhause zu fühlen und sein Zuhause in sich selbst immer mitzuführen. Jeder Ort hat etwas, das einen beheimatet und kein Ort ist perfekt.

 



Medium: Buch
Genre: Sachbuch, Soziologie
Altersempfehlung: Erwachsene
Umfang: 159 Seiten
Standort: Gcl Schr
Verfügbarkeit prüfen: Nüchtern

Wie erträgt man das Leben nüchtern? Wer, wie Schreiber, über längere Zeit regelmäßig viel Alkohol getrunken hat und dann komplett damit aufhört, muss sich Ersatzbeschäftigungen und -belohnungen suchen, seinen kompletten Wertekanon umkrempeln, seine Freundschaften neu justieren, ein neues Leben aufbauen. Da die Hürden so hoch sind, verwundert es nicht, dass viele in alte Gewohnheiten zurückfallen. Wie gelingt es Schreiber, trocken zu bleiben? Neben seiner langjährigen Psychotherapie und dem Besuch von Selbsthilfegruppen therapiert er sich selbst mit ausgiebigem Kochen, Gärtnern und Stricken – und natürlich dem Schreiben seiner Bücher. So sieht er etwas Wunderbares durch seine eigenen Hände entstehen, das ihm Selbstwirksamkeit gibt. Und er geht oft lange spazieren und wandern. Schreiber macht uns den Verzicht auf Alkoholika schmackhaft, indem er beschreibt, wie gut das Leben ohne Alkohol ist, wie viel besser es einem emotional und körperlich geht. Er stellt deutlich heraus, dass der Alkohol nicht bei der Bewältigung von Problemen hilft, sondern viele Probleme überhaupt erst schafft. Jedoch schildert er auch den Rechtfertigungsdruck, den er ständig spürt. Egal, welche Begründung er nennt, keinen Alkohol zu trinken, er stößt damit andere Leute vor den Kopf und provoziert sie ungewollt. Menschen, die Alkohol trinken, empfinden sein Eingeständnis, mit Alkohol nicht umgehen und seine Grenzen nicht einhalten zu können als Bedrohung, da auch sie im Innersten ahnen, dass sie gefährdet sein könnten, zumindest psychisch abhängig zu werden. Das Klischee vom sozial benachteiligten, körperlich abhängigen Alkoholiker mit Kontrollverlust verkennt leider, dass es viel mehr Alkoholiker gibt, die diesem Stereotyp überhaupt nicht entsprechen, bei dem aus dem „guten Glas Rotwein zum Abendessen“ aber immer mehr und irgendwann zu viel wird. Alkohol, ist, im Gegensatz zu anderen Drogen, sozial akzeptiert, in vielen Situationen sogar gefordert, es gilt als sozialer Schmierstoff. Am besten hat mir als Antwort auf die Frage, warum man nicht mehr trinkt, „Es verträgt sich nicht mit meinem Heroin-Konsum“ gefallen, denn sie zeigt deutlich auf, dass beides Suchtmittel sind, die gesellschaftlich jedoch ganz anders bewertet werden.

 


Mein Fazit:

„Nüchtern“, „Allein“ und „Zuhause“ sind hilfreich, um die Gedanken kluger Köpfe nachzudenken, sich von Daniel Schreiber als Leidensgenossen begleitet zu fühlen und ein Zwischenfazit über sein eigenes Leben zu ziehen: Wie, wo und mit wem möchte ich leben? Wie viel Alkohol (oder ein anderes Suchtmittel) soll Teil meines Lebens sein? Was kann ich tun, um alleine glücklich zu sein und mich nicht einsam zu fühlen? In mir haben Schreibers Bücher eine Menge bewirkt und mir einen Schubs gegeben, in eine neue Richtung, auf einen besseren Weg.



Geschrieben von M. Überschaer



 

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